Der Glückliche Tod. (cahiers Albert Camus 1).


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Albert Camus Der glückliche Tod Roman Deutsch von Eva Rechel-Mertens Nachwort und Anmerkungen von Jean Sarocchi Rowohlt Die Originalausgabe erschien 1971 unter dem T itel La Mort heureuse / Cahiers Albert Camus I im Verlag Gallimard, Paris Nachwort und Anmerkungen wurden von Gertrude Harlass übersetzt Schutzumschlag- und Einbandentwurf von Werner Rebhuhn 1.-20. Tausend August 1972 21.-35- Tausend September 1972 © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1972 La Mort heureuse © Editions Gallimard, Paris, 1971 Alle deutschen Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Aldus-Buchschrift (Linofilm-Super-Quick) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Werkdruckpapier von der Papierfabrik Schleipen, Bad Dürkheim Printed in Germany ISBN 3 498 00837 4 Erster Teil Der natürliche Tod I Es war zehn Uhr m orgens, und P at rice M ersault ging m it gleichm äßigen Schrit t en auf Zagreus' Villa zu. Um diese Zeit war die W ärt erin auf dem M arkt und niem and im Hause. Es war April, ein schöner funkelnder kalt er Frühlingsm orgen m it einem reinen eisigen Him m el, in dem eine große Sonne st and, st rahlend, aber ohne W ärm e. Zwischen den P inien an den Hängen in der Nähe der Villa rann ein reines Licht an den St äm m en ent lang. Die St raße lag verlassen da. Sie st ieg ein wenig an. M ersault t rug einen Koffer, und in der Glorie dieser Erdenfrühe ging er dahin, begleit et von dem hart en Geräusch seiner Schrit t e auf der kalt en St raße und dem t akt m äßig wiederkehrenden Knarren des Koffergriffs. Kurz vor der Villa m ündet e die St raße in einen kleinen P lat z m it Bänken und Grünanlagen. Frühe rot e Geranien zwischen grauer Aloe, das Blau des Him m els, das W eiß der Um fassungsm auern — das alles wirkt e so frisch und so jung, daß M ersault einen M om ent den Schrit t verhielt , bevor er den W eg einschlug, der von dem P lat z zu Zagreus' Villa hinunt erführt e. Vor der Schwelle des Hauses blieb er st ehen und zog seine Handschuhe an. Er öffnet e die T ür, die der Krüppel st et s unverschlossen hielt , und m acht e sie ganz nat ürlich hint er sich wieder zu. Er ging durch den Flur bis zur drit t en T ür links, klopft e an und t rat ein. Zagreus war selbst verst ändlich da, er saß, m it einem P laid über den St üm pfen seiner Beine, in einem Sessel dicht am Kam in, genau an dem P lat z, den M ersault zwei T age zuvor eingenom m en hat t e. Er las, und das Buch lag auf seiner Decke, während er M ersault , der neben der wieder geschlossenen T ür st ehengeblieben war, aus seinen runden Augen ansah, in denen keinerlei Verwunderung lag. Die Fenst ervorhänge waren zugezogen, und auf dem Boden, auf den M öbeln und an den Kant en der Gegenstände spielten Sonnenflecke. Hinter den Fensterscheiben strahlte der Morgen auf die vergoldete, kalte Erde herab. Freude, eine große eisige Heiterkeit, schrille, heisere Vogelschreie, die Flut von unbarmherzigem Licht verliehen der Vormittagsstunde einen Anschein von Unschuld und Wahrheit. Mersault war stehengeblieben, an der Kehle und an den Ohren von der erstickenden Hitze in dem Zimmer gepackt. T rotz der veränderten Witterung hatte Zagreus ein mächtiges Feuer entfacht. Und Mersault spürte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg und in den Rändern seiner Ohren pochte. Immer noch schweigend folgte der andere ihm mit dem Blick. Patrice ging zu der T ruhe auf der anderen Seite des Kamins und stellte seinen Koffer auf den T isch. Dort angekommen, verspürte er eine kaum merkliche Schwäche in den Fußgelenken. Er hielt inne und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die er wegen seiner behandschuhten Hände ungeschickt anzündete. Hinter ihm ließ sich ein schwaches Geräusch vernehmen. Mit der Zigarette im Mund drehte er sich um. Zagreus schaute ihn noch immer an, hatte jedoch sein Buch zugeklappt. Während Mersault die Hitze fast schmerzhaft an seine Knie dringen fühlte, las