Die Im Dunkeln Sieht Man Doch


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Das Buch Der Fall der Vera Hillyard, die kurz nach dem Krieg wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt und hingerichtet wurde, wird wieder aufgerollt. Briefe, Interviews, Erinnerungen, alte Photographien fügen sich zu einem Psychogramm, einer Familiensaga des Wahnsinns. Schicht um Schicht entblättert Barbara Vine die Scheinidylle eines englischen Dorfes, löst zähe Knoten familiärer Verflechtungen und entblößt schließlich ein Moralkorsett, dessen psychischer Druck nur noch mit Mord gesprengt werden konnte. Die Autorin Barbara Vine (i. e. Ruth Rendell) wurde am 17. Februar 1930 in South Woodford/London als Tochter eines Lehrerehepaars geboren. Sie litt sehr unter der unglücklichen Ehe ihrer Eltern. In London ging sie auch zur Schule. Später arbeitete sie zunächst als Journalistin bei einer kleinen Wochenzeitschrift. Nach der Geburt ihres einzigen Sohns war sie zehn Jahre lang Hausfrau, bis ein Verleger ihr den Tip gab, Krimis zu schreiben. Ihr erstes Buch erschien 1964. Seitdem hat sie an die vierzig Romane und vier Bände mit Kriminalgeschichten verfaßt. Bekannt wurde sie hauptsächlich durch ihre Kriminalromane mit Inspektor Wexford. Dreimal schon erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den »Golden Dagger Award«. 1997 wurde sie mit dem »Grand Masters Award« der Crime Writers Association of America, dem renommiertesten Krimipreis überhaupt, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II in den Adelsstand erhoben. Heute lebt sie wieder in London. Davor, wie es sich für eine Queen of Crime gehört, in einem Farmhaus aus dem 16. Jahrhundert in Suffolk. Barbara Vine Die im Dunkeln sieht man doch Roman Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann Diogenes Titel der Originalausgabe: ›A Dark Adapted Eye‹ © Kingsmarkham Enterprises Ltd., 1986 Umschlagillustration: Arthur Hughes, ›April Love‹ (1855) Deutsche Erstausgabe Alle Deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1988 by Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3 257 01764 2 1 A n dem Morgen, als Vera starb, wachte ich sehr früh auf. Die Vögel hatten schon angefangen zu singen, in unserem grünen Vorort war ihre Zahl größer und ihr Gesang lauter als auf dem Land. So hatten sie vor Veras Fenstern im Tal von Dedham nie gesungen. Ich lag da und horchte auf Laute, die sich monoton wiederholten. Es muß eine Drossel gewesen sein, eine Drossel, von der Browning so schön gedichtet hat, daß sie jedes Lied zweimal singt. Es war ein Donnerstag im August vor hundert Jahren. In Wirklichkeit natürlich ist es vielleicht fünfunddreißig Jahre her, es kommt einem bloß so lange vor. Nur unter diesen Umständen weiß man genau, wann ein Mensch sterben wird. Jeder andere Tod läßt sich mit einiger Bestimmtheit voraussagen, mutmaßen, ja sogar absehen, nicht aber auf die Stunde, die Minute genau, ohne jeden Hoffnungsschimmer. Vera würde um acht sterben, basta. Mir wurde flau. Ich lag übertrieben still und horchte auf Geräusche aus dem Nebenzimmer. Wenn ich wach war, würde mein Vater es auch sein. Bei meiner Mutter war ich mir nicht so sicher. Sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie seine beiden Schwestern nicht leiden mochte. Das war einer der Gründe für die Entfremdung zwischen ihnen, obgleich sie nach wie vor zusammen im Nebenzimmer schliefen, in einem Bett. Einen Ehebruch, eine Trennung, diese Dinge ging man damals nicht so leichten Herzens an. Ich überlegte, ob ich aufstehen sollte, aber zuerst wollte ich wissen, wo mein Vater war. Ihm auf dem Gang zu begegnen, wir beide im Morgenrock, mit vor Schlaflosigkeit 6 verquollenen Augen, beide auf dem Weg ins Badezimmer und uns höflich den Vortritt lassend – irgendwie war das eine scheußliche Vorstellung. Gewaschen wollte ich ihm gegenübertreten, gekämmt und gegürtet. Ich hörte nichts, nur die Drossel, die ihre stupide Strophe nicht zweimal, sondern fünf- oder sechsmal wied