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Alan Watts – Buddhismus verstehen HERDER Spektrum Band 5567 Alan Watts Buddhismus verstehen Religion der Nicht-Religion Aus dem Amerikanischen von Renate FitzRoy Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Buddhism. The Religion of No-Religion" Copyright © 1995 by Mark Watts ISBN 3-451-05567-8 1 Alan Watts – Buddhismus verstehen 1. Der Weg von Indien Wer sich mit dem Buddhismus vertraut machen will, muss sich dessen aus Indien stammenden weltanschaulichen Hintergrund vergegenwärtigen und sich mit indischer Kosmologie befassen - gerade so, wie man das Ptolemäische Weltbild verstehen muss, um Dante und einen Großteil des christlichen Mittelalters zu begreifen. Der Buddhismus hat die Weltsicht und Kosmologie des Hinduismus in den japanischen Alltag eingeführt. Zwar ist diese Weltsicht älter als der Buddhismus, aber für den Buddhismus war sie eine so selbstverständliche Voraussetzung, wie wir vermutlich die moderne Astronomie zur Grundlage unserer Weltanschauung machen würden, wenn wir heute eine neue Religion gründeten. Die Menschheit hat drei große weltanschauliche Entwürfe entwickelt – zum einen die westliche Sicht, die die Welt, in Analogie zur Arbeit eines Tischlers oder Töpfers, als ein Konstrukt oder Artefakt versteht. Dann gibt es die Sicht des Hinduismus von der Welt als Drama oder Schauspiel. Die dritte Weltsicht ist die chinesische, die die Welt als einen Organismus, einen Körper betrachtet. Aus der Hindu-Perspektive jedenfalls erscheint die Welt als ein Drama – mit anderen Worten, das Existierende, was immer da ist, was da gewesen ist und was bleiben wird, ist das Ich – Atman auf Sanskrit. Atman wird auch als Brahman bezeichnet, was sich von der Wurzel bri – wachsen, sich ausdehnen, anschwellen – herleitet. Brahman, das Ich im hinduistischen Selbstbild, spielt fortwährend mit sich selbst Verstecken. Wie weit kann man gehen, wie weit sich verirren? Nach hinduistischer Vorstellung sind wir alle Gottheiten, die sich absichtlich auf Irrfahrt begeben. Dabei kann uns durchaus Schreckliches zustoßen – aber umso schöner ist es, daraus wieder wie aus einem Traum zu erwachen! Das ist die zugrunde liegende Vorstellung, die in ihrer schlichten Eleganz jedem Kind einleuchtet, wie ich feststellen konnte. 2 Alan Watts – Buddhismus verstehen In dieser Kosmologie oder Auffassung des Universums kommen Begriffe wie Kalpas vor, gewaltige Zeiträume, die das Universum durchläuft. Ein anderer Aspekt sind die sechs Bereiche des weltlichen Daseins. Diese Vorstellung ist zwar dem Hinduismus entlehnt, hat aber große Bedeutung für den Buddhismus und wird im Bhava-Chakra dargestellt. Bhava oder Phava heißt Werden, Chakra heißt Rad. Das Rad des Werdens oder Rad von Geburt und Tod kennt sechs Teile. Wer die höchste Stufe erklommen hat, wird als Deva bezeichnet. Die Menschen ganz unten nennt man Narakas. Devas sind Engel – Menschen, die auf der Welt Höchstes erreicht haben. Die Narakas sind die Versager dieser Welt, die in der Hölle Qualen erleiden. Zwischen diesen Polen der glücklichsten und der unglücklichsten Menschen liegt die Welt der Pretas, der Hungergeister, die in der Nachbarschaft der Naraka-Welt angesiedelt ist. Pretas sind unbefriedigte Geister mit kleinen Mündern und gewaltigen Bäuchen. Ihr Hunger ist ungeheuer, die Mittel, ihn zu stillen, sind aber begrenzt. Oberhalb der Pretas sind die Menschenwesen in der Mitte der sechs Welten zu Hause. Von dort steigt man auf zu den Devas, um dann wieder von neuem abzusteigen. Die nächste Welt auf dem Abstieg heißt Asura, die Welt der zornigen Geister. Hier verkörpert sich aller Zorn und alle Gewalt in der Natur. Die nächste Stufe darunter ist die der Tiere, angesiedelt zwischen Asura und Hölle. Diese Unterteilungen sind nicht wörtlich zu verstehen, sondern entsprechen den geistigen Verfassungen des Menschen. Wenn